Von Kruschköpfen in zwei Klimazonen

Wann immer Opa vor einem praktischen Problem stand, das er nicht auf Anhieb mit Mitteln aus seinem üblichen Repertoire lösen konnte, ging er an die Schublade in seiner Werkstatt, die als die Kiste mit Kruschkram bezeichnet wurde. Für mich als Kind war das immer wie Ostern und Weihnachten auf einen Tag – eine wundersame Welt voller Überraschungen tat sich vor mir auf. In diese Schublade wurde alles abgelegt, das nirgend woanders hinpasste, aber das vielleicht noch einmal von Wert sein könnte. Und natürlich konnte mein Opa meine Frage „Wofür ist das gut?“ selten hinreichend beantworten, was seinen Kruschkram noch viel interessanter machte. Übrigens war es auch meist so, dass er in der Schublade etwas fand, mit dem sich – zumindest vorläufig – mein Problem auch lösen ließ.

Die Old School-Kruschkiste ist hier die Metapher, um die kreative und innovative Dimension von Complex Problem Solving im Design zu verdeutlichen. Vielleicht ist diese Kruschkiste sogar dafür verantwortlich, dass ich Industrial Design studiert habe. Auch ich sammle in meinem Kopf die unterschiedlichsten „Dinge“, um sie möglicherweise eines Tages miteinander zu verknüpfen, um so zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Wenn man als Designer nun nicht gerade sein Leben nur dem Entwickeln und Gestalten von immer neuen Küchenstühlen widmet, sondern sich von der Komplexität unserer artifiziellen Welt ständig herausgefordert fühlt, dann ergeben sich sehr viele lose Enden, die zu neuen Netzen geknüpft werden wollen. Diese führen im Design fast zwangsläufig zu kreativen Optionen, die sich im Konzert mit anderen Wissenschaften dann zu erfolgreichen Innovationen realisieren lassen. Versucht doch das Design auch die dunkelsten Ecken anderer Disziplinen nach Optionen für Innovation zu durchleuchten. Das Design selbst hat sich in den letzten Jahren zu einer Kruschkiste entwickelt, in der sich UI/UX-Design, Service-Design, Social Design, Design Thinking u.a. finden lassen. Ergänzt wird das gestaltungsorientierte Design durch ein neues Designverständnis aus technischen, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, das eher planungsinduziert ist – vom Learning Design über das Design Engineering bis hin zum Business Process Design. Planung und Gestaltung – zwei Klimazonen in der Terra Incognita der Transformation.

Wer heute über Innovation redet, muß Transformation mitdenken. Allerdings wird häufig gemeint, dass Innovationen Voraussetzung dafür sind. Ich meine, es müsste genau umgekehrt sein: Strategien der Transformation sollten vorzeichnen, auf welcher Basis welche Innovationen entstehen müssen. Hierbei sollte der Fokus nicht auf technischen Neuerungen liegen, sondern gleichermaßen soziale und kulturelle wie auch ökologische und ökonomische Konzepte der Innovation berücksichtigen. Und dafür braucht es kreative Kruschköpfe, die neue Netze zwischen allen wissenschaftlichen Disziplinen knüpfen können.

Link: https://www.zeit.de/politik/2023-02/technische-innovationen-technologie-konservativ-welt-veraendern-zukunft

Bildquelle: Eigenes Bild