Geburtshelfer, Seelentröster und Karriere-Epauletten

Kunst kann sehr still sein und ist dennoch laut und deutlich zu hören. Kunst kann einem in den Arsch treten und auch vor den Kopf hauen. Kunst kann das Korrektiv zum Kapitalismus sein. Kunst kann Kontemplation zum Konsum bieten. Kunst gibt Widerworte, ohne auf Zank aus zu sein. „The Walthamstow Tapestry“ von Grayson Perry, der 2003 den Turner-Preis gewann, ist ein Kunstwerk, das leise und dennoch vernehmlich anprangert. Der 15 m lange Wandteppich beginnt mit dem Leben in einer blutigen Geburt, geht über in das Dasein des Erwachsenen und endet mit dem Tod auf dem Sterbebett. Eskortiert werden die diversen Lebensphasen des Menschen von Szenen aus seinem Alltag und garniert wird alles von Markennamen, die es offenbar braucht, um überhaupt das Dasein zu ertragen und durchs Leben zu kommen. Die Marken als Geburtshelfer, als Belohnungsmittel, als Karriere-Epauletten, als Spaßturbo und als Seelentröster! Dem kritischen Betrachter des Kunstwerks drängt sich die Frage auf, was für eine Art Leben das ist, wenn es permanent auf ein Stützkorsett durch geliehene und verliehene Aufwertung angewiesen ist? Der Marke als solches kann es recht sein, wenn es in philosophische Sphären gehoben wird, die die Suche nach dem Sinn des Lebens markieren. Aber ist dem so? Ist denn die Marke nicht vielmehr Meme sinnentleerten Lebens?

Die Überhöhung ins Religiöse wird durch den Künstler und sein Werk ad absurdum geführt. Allein die bloße Menge des „Besonderen“ der Marke zeigt eine Inflation des Wohlstands, der sich selbst kannibalisiert. Der im Maastrichter Bonnefanten-Museum ausgestellte Wandteppich zeigt das Leben im Hier und Jetzt. Ein Leben nach dem Tod, wie von den Religionen propagiert, ist nicht Teil des Konzepts. Vielleicht wird so der grenzenlose materielle Wohlstand einerseits und die Verarmung der Gesellschaft andererseits um so deutlicher?

Kunst übt hier Gesellschafts- und Kulturkritik. Das kann sie, weil sie eigenständig ist. So entgeht sie den Tabus durch die abhängige Vernetzung. Kunst will nicht akademisch belehrend sein oder gar die besserwisserischen Attitüden der Stammtische verstärken. Kunst will an die Notwendigkeit der Reflexion erinnern, die gerne von der uns innewohnenden Trägheit verdrängt wird, weil Denken doch eines gewissen Aufwands bedarf. Wer sich der Herausforderung stellt, kommt durch die Inspiration der Kunst auch zu neuen Perspektiven auf Erkenntnisse. Voraussetzung ist der Wille, sich darauf einzulassen!

Wenn, wie in diesem Beispiel, die Kunst ein Thema aufnimmt und es uns wie mit einem Brennglas fokussiert, dann will sie intellektuelle Auseinandersetzung provozieren. So frage ich mich, ob es die Marken mit ihrer eigenen Bedeutung übertrieben haben. Oder ob die Marken es mit der Bedeutung der Menschen untertrieben haben und uns nicht mehr ernst nehmen. Mensch und Marke – eine auseinandergelebte Beziehung?

https://www.theguardian.com/artanddesign/2009/oct/06/grayson-perry-tapestry-victoria-miro

Bildquelle: Eigenes Bild