Vom Schlaf in die Schockstarre?

Da saß er, der ältere Herr, radelte auf dem Ergometer im Fitness-Studio, schwitzte und hörte die Rock-Musik aus den 70ern. Nebenan war der Platz leer und er hoffte, nicht mit einem freundlichen Hallo in diesem runden Moment des sozialen Alleinseins gestört zu werden. Auf seinem Kopfhörer dröhnte gerade der Song „Don´t stop (thinking about tomorrow)“ von Fleetwood Mac als – wie von Geisterhand – auf dem Display des Fahrrads ein Text aufleuchtete. Sicher nur Werbung, dachte der abgeklärte Babyboomer, schielte aber runter. Dort stand: „Ich bin noch nicht da, wo ich hin möchte. Aber zum Glück bin ich auch nicht mehr dort, wo ich einmal war. Ich gehe weiter, auf meinem Weg.“ Unser Protagonist steht nicht auf Kalenderspruch-Weisheiten mit orthografischen Fehlern, doch hatte er Muße zum Sinnieren beim Strampeln … 

Und so musste der professorale Snob zugeben, dass der anonyme Aphorismus etwas hatte. Für seine persönliche und individuelle Sozialisation und Berufskarriere könnte man es gelten lassen. Aber könnte es auch als Bewertung einer Nation, nämlich Deutschland funktionieren? Betrachtet man die Situation nach 1945 und unseren Weg zur zeitweise größten Exportnation, könnte man sagen, dass wir dort waren, wo wir (aber auch andere!) hinwollten. Also alles richtig gemacht? Kommt drauf an …

Was hat es zu bedeuten, wenn im Deutschen Bundestag seit dem Millennium „weniger über Zukunftsszenarien und Innovationen gesprochen wird“. Dabei müssten doch beide Begriffe viel stärker in den politischen Fokus seinerzeit gerückt sein? War das der Punkt, an dem Deutschland falsch abgebogen ist und nicht mehr die Kurve zur Transformation gekriegt hat? Könnte sein, denkt unser grauer Panther. Gibt es doch für ihn eine sehr direkte Beziehung zwischen Transformation und Innovation. Und reduziert man die Aufgabe der Transformation nicht nur auf die Technik und die Wirtschaft, sondern auf die gesamte Gesellschaft, dann kriegt die Definition von Innovation sogar noch eine politische Komponente. So haben gerade die Krisen der letzten Jahre das Defizit an neuen kreativen Handlungen recht schonungslos aufgedeckt. Zwar sind wir als Gesellschaft nicht mehr in der Gemütsverfassung, als uns die negativen Ereignisse mit voller Wucht trafen. Aber wir sind auch noch nicht im Zustand der Resilienz. 

Warum scheint auf dem politischen Parkett diese Ménage-à-trois von Zukunft- Utopie-Innovation nur zur Dekoration des Bühnenbilds geeignet? Ist es die Dynamik des Tagesgeschäfts mit ihren immer neuen Krisen? Oder fehlt eine positive Geschichte mit breitem Aufmerksamkeitswert und beifallträchtiger Inszenierung? Oder ist inzwischen die Komplexität des Geschehens so groß, dass man die sich daraus entwickelnden Konsequenzen nicht mehr beschreiben kann?

Der alte Rock´n-Roller auf seinem Ergometer fragt sich leicht bösartig, ob unsere Gesellschaft übergangslos vom Schlaf in die Schockstarre geraten ist?

https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/florence-gaub-interview-zukunft-zuversicht-hoffnung-93183

Bildquelle: Eigenes Bild