Europa, reiß´ dich am Riemen

Müssen wir uns eingestehen, dass die Demokratie in der Einlösung ihres eigenen Bildungsauftrags versagt hat? Menschen glauben immer mehr, dass ihre selektive Wahrnehmung ausreicht, um eine feste Überzeugung darauf zu gründen. Sie ignorieren auch, dass das, was Sie wahrnehmen, nur einen Teil der Wahrheit darstellt. Und neuerdings kommt noch jede Menge spektakulärer Nebelkerzen hinzu, die einem bewusst den Blick verstellen soll.
 
Ich kann gut nachvollziehen, dass der Stammtisch wohl zu einem Zufluchtsort geworden ist, der einem das subjektive oder besser trügerische Gefühl von Meinungssicherheit vermittelt. Kein Wunder, dass die einfachen Antworten und Lösungen wieder sehr in Mode gekommen sind.
 
Was aber in den letzten Tagen seit der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich wurde, ist, dass für die alte Welt eine neue Zeitrechnung gilt. Aus dem bis dato lieben und verlässlichen Uncle Sam, der sein Händchen über Europa gehalten hat, wurde der kaltherzige Ebenezer Scrooge, der seine Waffen nur gegen die „Seltenen Erden“ der Ukraine hergibt. Die Hoffnung, dass ihm zu Weihnachten die vier Geister erscheinen und ihn zu einem guten Menschen bekehren, müssen wir umgehend zu Grabe tragen. Ab jetzt werden die Werte des Westens nur noch in der Währung der US-Dollar gemessen.
 
Lesen Sie das Interview mit dem amerikanischen Publizisten George Packer „Trump verhält sich wie ein Mafia-Boss“ (12.2.2025, handelsblatt.com) und Sie werden vielleicht verstehen, wie und warum die Weltordnung nach anderen Regeln als bisher funktioniert – die Macht des Stärkeren gilt ab jetzt und ist sogar hoffähig geworden.
 
Aber, in jedem üblen Schicksalsschlag steckt auch immer etwas Positives. Europa sollte, statt in Larmoyanz zu verfallen, sein politisches Etepetete („Das gehört sich nicht!“) ablegen und entweder die europäische Idee mit Verve verteidigen oder sich dem „Mafia-Boss“ unterwerfen. Eine non-performative Symbolpolitik, wie sie sich zwischenzeitlich zu einer Zivilisationskrankheit entwickelt hat, sollte schleunigst in Verruf geraten und geächtet werden.
 
Europa braucht jetzt europäische PolitikerInnen, deren Alphabet nicht bei A wie „Abschieben“ endet, sondern bei Z wie „Zukunftsplan“ anfängt. PolitikerInnen mit dieser neuen Qualität sollten internalisiert haben, dass Kollaboration nicht nur gut klingt, sondern auch gute Ergebnisse bringt.
 
PolitikerInnen müssen nicht nur parteien-, sondern vor allem auch länderübergreifend denken und handeln können. Und wenn die Europäische Union dafür die Reset-Taste drücken muss, dann sollte sie es schleunigst tun. Wir brauchen nicht weniger, sondern sehr viel mehr Europa.
 
Europa, reiß´ dich am Riemen! Der politische Paradigmenwechsel fährt nicht mit der Bimmelbahn Richtung Zukunft … Europe, think big or fuck-off!

Skulptur: „Zirgariak-Sirgueras“ von Dora Salazar, 2020

Europa – die eigene Idee verleugnen heißt verlieren. (Bildquelle: Eigenes Foto)