Utopie als Sprache einer Gesellschaft im Aufbruch

Man muss kein kritischer Zeitgenosse sein, um zu sehen, was ohne Perspektive ist. Die Amerikaner haben keinen Bock auf Europa, dafür Putin um so mehr. Der Nahe Osten war schon immer ein Pulverfass, jetzt brennt die Lunte. Der Klimawandel ignoriert seine Ignoranten und praktiziert die normative Kraft des Faktischen – Skigebiete werden zu Nostalgie-Postkarten und das Mittelmeer ist demnächst so warm wie eine Badewanne. Unsere Wohlstandsverwahrlosung manifestiert sich an den überquellenden Altkleider-Containern, während die Flieger aus China mit Fast-Fashion-Paketen Kurs auf Europa halten. Inzwischen empfinde ich es als pure Verschwendung von Wörtern, diesen bösartigen Blödsinn weiter aufzuzählen. Wer jetzt nicht versteht, dass ein neuer Plan hermuss, verweigert sich der Realität.

Zutiefst erstaunt mich die große Mehrheit der Menschen, die Business-as-usual betreibt und glaubt, die Katastrophen würden einen Bogen um ihre Komfortzonen machen. Es scheint, als würden alle auf etwas warten – auf eine Dienstanweisung, die besagt, ab jetzt wird aus der Zukunft gelernt und nicht mehr die Errungenschaften der Vergangenheit gelehrt? Oder etwa doch auf den großen Knall?

Gerade wurde über die Exzellenz-Förderung der Universitäten in Deutschland entschieden. Toll fände icheinen parallelen Wettbewerb im Wissenschaftsbetrieb (inklusive Citizen Science), der Utopien fördert. Utopien für transformative Prozesse, Projekte und Programme. Utopien z.B. für die Gesundheitsversorgung oder den Föderalismus. Oder für den Globalen Süden, der am wenigsten den Klimawandel zu verantworten, ihn dafür aber am stärksten zu verkraften hat. Oder für den Konsum in einer nachhaltigen Wirtschaft, die globalen Kreisläufen folgt. Oder ein gerechtes Steuersystem … Ich bin mir sicher, die Liste der Vorschläge für Utopien wäre endlos. Angesichts der sozialen und technischen, der ökologischen und wirtschaftlichen Verwerfungen sollte das Entwerfen von Utopien zur Problemlösungskompetenz eines jeden Verantwortungsträgers und Meinungsbildners gehören.

Wir leben in einer Mediengesellschaft, die sich kannibalisiert. Die klassischen Medien werden immer schwächer und die sozialen Medien immer krakeeliger. Ob es einen tückischen Zeitgeist gibt, der unsere A-Intellektualisierung betreibt? Ob sich der Turmbau zu Babylon wiederholt? Immer mehr Menschen verstehen den Anderen, ihren Nachbarn, nicht mehr.

Wie schaffen wir es, dass wir wieder eine Sprache sprechen? Mein Vorschlag ist, dass wir uns als Gesellschaft gemeinsam mit einem Thema beschäftigen – Utopien für Deutschland und Europa. Für die Utopie als „Nicht-Ort“ schaffen wir eine Heimat, die die Zukunftsgestaltung der Menschen als Postulat versteht. Wir sollten endlich den Dystopien von links und rechts, von oben und unten etwas entgegensetzen. Wir brauchen authentische Narrative einer Zukunft, die uns bewegen, und zwar im doppelten Wortsinn.

Realität verblasst, wenn Zukunft leuchtet!

Nichts sehen und dann überrollen einen doch die Katastrophen. Utopien gehören zur Früherkennung schlechter Gegenwart. Street Art vor dem MAUSA Vauban Musée Arts Urbains et du Street Art in Neuf-Brisach (F).