Vor kurzem wurde der Aachener Karlspreis 2025 an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verliehen. Sie erhielt diese Auszeichnung als „starke Stimme Europas in der Welt“ und als „europäische Führungspersönlichkeit“. In ihrer Dankesrede rief sie zum gemeinsamen Aufbau eines „unabhängigen Europas“ auf. Für mich ist das der Weg in die richtige Richtung. Es zeigt die Idee einer Utopie, die am Ende überlebenswichtig sein kann. Was ich dieser Idee wünschen würde, wäre ein breiter Widerhall in der Öffentlichkeit.
Ob Utopien aus der Zeit gefallen sind? Eigentlich nicht! Zumindest ich habe in meinem Leben nie eine größere Dringlichkeit verspürt. Aber vielleicht wurde das Träumen von einer idealen Gesellschaftsform durch die Jagd nach dem individuellen Wohlstand abgelöst? Und ein besseres Leben manifestiert sich in einem noch größeren Auto?
Wenn ich versuche, mir die Welt zu erschließen, frage ich mich zuerst, was ich denn da meine zu sehen? Die zweite Frage an mich selbst ist dann, was sehe ich eigentlich nicht? Und dann frage ich mich, warum es das offenbar nicht gibt, was ich meine, sehen zu müssen? Ganz hoch verdichtet: Was ist? Was ist nicht? Warum ist es so? Am erkenntnisreichsten ist für mich immer die zweite Frage, weil ich versuche, meine eigenen blinden Flecken kritisch zu hinterfragen. Spannend aber ist die Suche nach den Antworten, warum etwas, das ich für sinnvoll erachte, nicht existiert. Um eine Utopie zu entwerfen, braucht es die dezidierte Kritik am Ist-Zustand unserer Gesellschaft und ein Bild vom Morgen.
Während des Studiums beschäftigten wir uns intensiv mit einem der damaligen Basiswerke von Gert Selle „Ideologie und Utopie des Design. Zur gesellschaftlichen Theorie der industriellen Formgebung“ (1973). Die Lektüre machte uns klar, dass wir nicht nur eine wirtschaftsnahe Dienstleistung erbringen, sondern dass dieser Beruf auch dem sozio-kulturellen Fortschritt verpflichtet ist. Da Designentscheidungen immer Vorgriff auf zukünftige Entwicklungen sind, lernten wir gesellschaftliche Veränderungen zu antizipieren. Der Begriff der Utopie war für uns positiv besetzt! Wir sahen Zukunft immer optimistisch.
In den letzten Jahren habe ich an mir festgestellt, dass meine optimistische Grundhaltung erodiert. Nur eine Alterserscheinung? Allerdings merkte ich beim Auseinanderbrechen der selbsternannten „Fortschritts-Koalition“, dass mein wachsender Pessimismus auch extrinsisch motiviert ist. Spätestens seit der Amtseinführung von Donald Trump zogen weitere dunkle Wolken an meinem Horizont auf. Um nicht zu resignieren, besann ich mich zurück auf die Wirkmächtigkeit von Utopien. Für mich sind Utopien das optimistische Vehikel, um positiv Zukunft zu sehen und motiviert gestalten zu wollen. Wie machen wir daraus einen gemeinsamen Mindset und einen Masterplan, der uns aus den Polykrisen führt? Voraussetzung dafür ist ein philanthropisches, elaboriertes Wertegerüst von Zukunft. Können und wollen wir das?
