Utopie – die Übereinkunft zur Zukunft

Je älter ich werde, desto mehr entwickelt sich meine Faszination für das Thema Utopie. Vielleicht als professionelle Deformation eines Designers, für den das Tagträumen seine Realität ist. Oder ich als Rentner bin vom sozialen Korsett befreit, das früher oft Scheren im Kopf erzeugte. Oder ich bin von einer Art Virus ergriffen, das mich und meine Wahrnehmung infiziert und dabei zu utopischen Gedankenreisen motiviert. Ganz sicher lebe ich aber in einer Zeit, die gerade die uns liebgewordenen Paradigmen einbüßt. Jeden Tag sehe ich eine Welt im Abbruch, nicht im Aufbruch. Kein Wunder, dass das einzige Thema Schulden sind, in deren Größenordnung wir utopisch denken! 

Diese Tagträume sind immer auf der Durchreise und brauchen deswegen auch ihre Zwischenstationen, um zu generieren und aufzutanken. Eine dieser Möglichkeiten ist das Wahrnehmen und die Reflexion dessen, was in den Zwischenräumen großer Ereignisse sonst noch zu sehen ist. So zum Beispiel den im März 2025 veröffentlichten Zwischenbericht der Expertenkommission „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“. Rund drei Monate später (25.6.2025, sueddeutsche.de) ist ein Interview mit Julia Jäkel, einer der vier ProtagonistInnen eines 54-köpfigen Thinktanks, zu lesen – Überschrift: „Jeder weiß, etwas muss anders werden – aber was genau?“ Verwunderung stellt sich bei mir ein: Ist das etwa ein Zeichen von Altersschwäche der 76jährigen Bundesrepublik, die offenbar keine politische Vorstellung ihrer Zukunft hat? 

Wie soll sie auch, wenn nicht mehr miteinander gesprochen wird? So Nils Minkmar, Interviewer von Julia Jäckel: „Ich fand die Beobachtung sehr interessant, dass die Bundesrepublik sozial in Silos organisiert ist. Jede Branche redet also nur mit sich selbst, auch beispielsweise Kunst und Kultur schmoren im eigenen Saft.

Wenn jeder in dieser Republik seine eigene Agenda hat, werden nur noch die Egos bedient. Und dabei ist genau das Gegenteil vonnöten. So Julia Jäckel: „Alle müssen verstehen, dass die Probleme ineinandergreifen und nur gemeinsam mit allen Akteuren zu lösen sind. … Es ist nun eine gewaltige und anstrengende Gemeinschaftsaufgabe, die orchestriert werden muss.“ Mannschaftsgeist ist angesagt! Aber wie lässt sich das mit über 83 Mio. Menschen realisieren? 

Auf Zukunft reimen sich Wörter wie Herkunft und Ankunft, Vernunft und Auskunft … Und Auskunft erhält man nur, wenn man fragt. Am ergiebigsten ist das, wenn man sich mit Menschen unterhält, die man nicht kennt und deren Erkenntnisse für einen selbst neu sind. An der Bereitschaft zu dieser Offenheit scheint es in unserer Gesellschaft dramatisch zu mangeln. Dabei brauchen wir sie mehr als alles andere.

Übrigens reimt sich auf Zukunft auch Übereinkunft …

Für mich ist Utopie längst nicht mehr feuilletonistisches Podcast-Geplänkel, sondern politisches Muss als Ausdruck des Überlebenswillens und der Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft!

Ja, wir sitzen alle in einem Boot. Und wenn das so bleiben soll, müssen wir über den Kurs dieser Gesellschaft reden. Ja, es gibt Gesprächsbedarf! Street Art irgendwo in F-Straßburg.