Ob Deutschland unter Bluthochdruck leidet? Eine Krankheit, die man nicht spürt, sondern bei der man sich meist ganz gut fühlt. Dennoch kann sie zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen. Hypertonie lässt sich zwar diagnostizieren und therapieren – allerdings muss der Patient mitspielen und seine Risikofaktoren wie Übergewicht, falsche Ernährung etc. bekämpfen. Sind wir als Gesellschaft bereit?
Deutschland scheint gut drauf zu sein und Spaß am Leben zu haben – „Reiselust der Deutschen erreichte 2024 Rekordwert“ (1.8.2025, zeit.de). Die Zahl der mehrtägigen Reisen stieg 2024 um elf Prozent auf 277 Millionen. Andererseits verlieren wir in Deutschland monatlich bis zu 15.000 Arbeitsplätze in der Industrie – siehe Aussagen in „Kollaps der deutschen Industrie – China sieht uns nicht mal mehr im Rückspiegel“ (26.10.2025, n-tv.de). Will der Patient Deutschland gar nicht wissen, wie krank er ist? Wieso dieses Vogel-Strauß-Verhalten – Körper an den Strand und Kopf in den Sand?
Was stimmt mit uns nicht? Einen guten Einstieg in ein komplexeres Verständnis der Situation gibt das lesenswerte Interview „Wäre ein wenig mehr Deutschland AG heute nicht hilfreich?“ (27.10.2025, handelsblatt.com). Die „Deutschland AG“ war ein Netzwerk von Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen, die es sich durch gegenseitige Kapitalbeteiligungen und wechselseitige Aufsichtsratsmandate ermöglichten, wirtschaftspolitische Entwicklungen zu beeinflussen. Das schaffte einerseits eine starke Kooperation, andererseits behinderte es die Liberalisierung der Wirtschaftsordnung in Deutschland. Stabilität ja, Dynamisierung nein.
Im Intro ist erkennbar, dass es um Identität, Innovation und Intervention geht. Klar wird: Das, was Deutschlands Wirtschaft stark gemacht hat, ging verloren. Das, was an volkswirtschaftlicher Erneuerung notwendig gewesen wäre, wurde versäumt. Und das, was an gesellschaftlichem Dialog bei diesem Phänomen der Veränderung wichtig gewesen wäre, wurde unterlassen. So ist wohl auch die deutliche Vereinzelung der Interessen durch eine schwindende Schnittmenge zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen Verwaltung und Wissenschaft unserer Gesellschaft zu erklären. Der Eindruck drängt sich – zumindest mir – auf, dass jeder meint, mit dem anderen nichts mehr gemeinsam zu haben. Wir empören uns gerne, aber uns fehlt die Begeisterung für eine kollektive Zukunft.
Zukunft – ein Wort, das offenbar immer mehr in die Schublade der Low-interest-Topics rutscht. Der Begriff Zukunft hat nur noch instrumentellen Charakter, ein gesellschaftsrelevanter positiver und emotionalisierender Impact scheint völlig zu fehlen. Nehmen Sie beispielsweise „Die Zukunft der Bahn“. Das berührt einen wie die Haufen zum Mitnehmen an der Straße mit dem Zettel „Zu verschenken“.
Ob unsere Gesellschaft unter einer Krankheit leidet, die sich durch die Reduzierung auf das Private bemerkbar macht? Die Echokammer als Gesellschaftsform? Diagnose steht, Therapie fehlt …

