Vakzin gegen Verblendung

Googeln Sie das Wort „Philosophie“ und Ihnen wird auffallen, dass täglich in den Medien PhilosophInnen interviewt, zitiert oder veröffentlicht werden. Neben Fachexperten für Krieg und Klima, Urlaub und U-Boote, Fußball und Flüchtlinge sind sie vielleicht die Berufsgruppe, die ihr “Gefragt-sein“ gerade deutlich spürt. Jetzt, wo der Wahnsinn im Wohnzimmer stattfindet und der mediale Hausaltar zum Safe House wird, stehen auch Ethik-Profis vor den Kameras und sitzen in den Talkshows. Auf einmal hat die Wissenschaft mit der „Liebe zur Weisheit“ Hochkonjunktur. Wenn im Sokrates-Forum die Frage gestellt wird „Kann man mit Philosophie die Welt verändern?“, dann geht es um die Wirkmächtigkeit einer Disziplin des Denkens in einer Welt, die gerade ihre Krisen so kontrolliert wie eine Flipper-Spielmaschine ihre Kugel. Man weiß nicht mehr Wer?, Wann?, Wo? und Warum? demnächst einen folgenschweren Konflikt anzettelt. Es scheint, als ob das Chaos wieder nach komplexen, differenzierten Kommentierungen verlangt. 

Fast könnte man meinen, dass dieses Big Picture der Multikrisen zu einem nachhaltigen Konjunkturaufschwung von Geisteswissenschaftlern führt. Nach meinem Verständnis ist das längst überfällig! Dabei geht es mir gar nicht um das große Sinn-Pathos. Ich sehe das eher nüchtern. Vergeuden wir als Gesellschaft doch immer noch fließbandartig unsere natürlichen und menschlichen Ressourcen für die Aufrechterhaltung eines Wirtschaftssystems, dessen Anteil an Retro-Produkten größer statt kleiner wird. Anscheinend getrieben von ManagerInnen, dessen Handeln von Quartalsberichten und nicht vom Denken in Utopien lebenswerter Zukünfte gelenkt wird. Ist etwa Philosophie das Vakzin gegen Verblendung? PhilosophInnen in die Chefetagen der deutschen Unternehmen?! Ja, ganz ohne Zweifel! Die Wirtschaft muss sich einer Transformation unterziehen, deren Erfolg von einem Paradigmenwechsel abhängig sein wird. Es werden strategische Szenarien gebraucht, die komplexe Entscheidungsprozesse erfordern. Um hier den besten Richtungswechsel zu finden, braucht es ein Management mit einer radikalen Offenheit und “Weltzugewandtheit“ (Diderot). 

Dass in dieser Hinsicht etwas passiert, zeigt die Stanford University, die 2018 eine Initiative zu „Ethik, Gesellschaft und Technologie“ gestartet hat. Vielleicht weil sie die Selbstverliebtheit der Techniker in ihr Können, die Selbsttäuschung der Betriebswirte in ihre Zahlen und die Selbstkasteiung der Juristen durch ihr Regelwerk erkannt hat? Der Ruf nach geisteswissenschaftlicher Kompetenz ist notwendig, um die hermeneutischen Aufgaben in Transformationsprozessen leisten zu können. Wer das, was passiert, deuten und verstehen kann, ist in der Lage, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. „Der Mensch handelt schlecht, wenn er das Gute nicht weiß“, so Sokrates. Erstrebenswerte Zukunft wird geboren, wenn Komplexität durch Denken beherrschbar bleibt …

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Bildquelle: DigitalVision