Wider den gesellschaftlichen Fliehkräften

Das Interessante am Rentner-Dasein ist, dass ich die Wahl zwischen dem Leben eines beigefarbenen Anorak-Trägers und SUV-Besitzers oder dem Leben eines Freizeit-Philosophen und Hobby-Kochs habe. Das erste Lebensmodell entspricht den gesellschaftlichen Erwartungen, während das zweite Modell immer wieder vom Überkochen bedroht ist – entweder beim Milchreis oder beim iterativen Prozess des Lesens und Denkens, des Schreibens und Überdenkens. Ich habe mich für den aufregenderen Verlauf entschieden, weil ich den Anorak noch später tragen kann.

Das FAZ-Interview mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler ist sehr spannend und gleichzeitig ernüchternd. Die von Münkler diagnostizierte „mentale Überforderung“ der Deutschen halte ich für das eigentliche, zentrale Problem. 

Ja, alle einzelnen von ihm genannten Krisen haben das tatsächliche Potenzial, um nachhaltig nervös zu werden. Die innere Bedrohung durch die sogenannte „mentale Überforderung“ der Deutschen lässt sich sehr viel schwieriger bekämpfen als eine Bedrohung von außen. Was von außen kommt, lässt sich als Feindbild identifizieren, die reale Konfrontation lokalisieren und eine Gegenwehr organisieren. Anders dagegen die Bedrohung durch innere Erosion in Kombination mit hohen gesellschaftlichen Fliehkräften: Hier ist die Analyse respektive Diagnose höchst schwierig und der Lösungsversuch durch eine Therapie ist wie die ungewisse Reise auf stürmischem Meer. Ein aktuelles und sogar öffentliches Beispiel ist die Partei „Die Linke“, die sich kontinuierlich und konsequent selbst zerlegt. Sogar nach dem Ausscheiden der „Spaltpilze“ geht der Prozess (bis zur finalen Bedeutungslosigkeit?) weiter.

Nun reden wir hier nicht von einer Partei, die bei der Bundestagswahl 2021 nur ganz knapp noch in den Bundestag eingezogen ist, sondern von einem 84 Mio. Volk, das die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt stellt und zu den einflussreichsten Ländern in Europa zählt. Und sich dadurch auch einen Wohlstand über die Jahrzehnte erwirtschaftet hat, der nun zu bröckeln beginnt. Was also kann, muss oder sollte Politik tun, um nicht dauerhaft in einen nationalen, pathologischen Stand-by-Betrieb zu verfallen? 

Ich denke nicht, dass es ein großes Feuer der Begeisterung von Berlin aus richten kann. Eher denke ich an viele kleine, verteilte Feuerchen in dieser Republik, die es schaffen, sich flächendeckend zu multiplizieren – von unten nach oben und in die Breite. Man kann sie als dezentrale, basiswirksame „Kreativitätsnester“, „Transformationszellen“, „Gestaltungsheim“ oder „Kümmererkiste“ bezeichnen, die anfangen, kommunale oder regionale Probleme zu bearbeiten, die mangels Zeit und Kapazität vor sich hin darben. Dadurch soll sich wieder Gemeinsinn entwickeln, Solidarität entstehen und Loyalität gegenüber der Demokratie wachsen. „Mentale Überforderung“ ist keine Option – nicht einmal für emeritierte Professoren …

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-welt-in-aufruhr-wie-bedroht-sind-wir-herr-muenkler-19550610.html

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