Utopie – Tagtraum der Transformation

Wenn man im professionellen Bereich jemandem noch eine Chance einräumt, dann ist dem ein Misslingen vorausgegangen. Durch die erneute Möglichkeit, sein Können doch noch zu zeigen, signalisiert man ihm, dass man an sein eigentliches Potenzial glaubt. Wird allerdings auch diese Gelegenheit vergeigt, ist die Enttäuschung sicherlich nachhaltig – der Mensch wird sich dann wohl einen neuen Job suchen. 

Völlig anders verhält es sich mit der menschlichen Phantasie. Sie kann uns Menschen gar nicht enttäuschen, weil ihr erst der Mensch Richtung, Kraft und Gestalt gibt. Phantasie ist die Form einer Kompetenz, aus der der Mensch etwas machen kann oder auch nicht. Deswegen halte ich die Überschrift „Geben wir der Phantasie noch eine Chance!“ des FAZ-Artikels für falsch. Wenn, dann müssen wir uns Menschen noch eine Chance geben und zeigen, ob wir als Gesellschaft überhaupt noch Phantasie haben und diese „blühen“ lassen können.

Klaus Kofler von der Future Design Akademie hat mich mal in einem Gespräch als Pessimist bezeichnet in der Frage, ob die Gesellschaft ihre Möglichkeitsräume der Zukunftsgestaltung kreativ nutzt. Tatsächlich halte ich es für unwahrscheinlich, dass unsere Gesellschaft mit ihrem existierenden Wirtschafts- und Bildungssystem eines Tages zur großen Form in Sachen Phantasie auflaufen wird. In meinem Berufsleben – sowohl in der Wirtschaft als auch in der Wissenschaft – habe ich viel mit Betriebswirten, Technikern und Juristen zusammenarbeiten dürfen. Diese Menschen hatten viele wichtige Fähigkeiten, aber Phantasie gehörte selten dazu. Für den Berufsstand der Designer dagegen zählt der Begriff Vision zum natürlichen Sprachschatz. Aber immer, wenn ich diesen erwähnte, wurde mir mit dem Helmut Schmidt-Zitat geantwortet: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“.

Stehen wir tatsächlich einer flächendeckenden gesellschaftlichen Einfallslosigkeit gegenüber, wenn es um Zukunftsgestaltung geht? Dürfen auch Pessimisten noch Hoffnung haben? Ist doch die Dringlichkeit nach neuen, lebenswerten Perspektiven immens gestiegen. Deutlich sichtbar wird dies am gesellschaftlichen Rechtsruck, der angesichts der Multikrisen zu verzeichnen ist. Eine Reaktion auf fehlende zukunftsorientierte Programmatik der bürgerlichen Parteien? Der Schwarz-Malerei fehlt offenbar das Korrektiv! Wenn sich schon die Jugend rechts-populistisch orientiert, sollten die Alarmglocken bei den etablierten Parteien schrillen.

Der FAZ-Artikel mahnt mit Recht wieder gesellschaftliche Utopien an, die Menschen motivieren, richtungsrelevant sind und ein Big Picture sein können, unter denen sich Mehrheiten versammeln. Eigentlich sollten Utopien Hochkonjunktur haben und endlich wieder hoffähig sein! Belastbaren Utopien liegen elaborierte Entwürfe mit dezidierten Konzepten zugrunde, sie sind progressiv bis provokativ und bieten ein sinnstiftendes Szenario. Eine Utopie ist die Transformation als Tagtraum! 

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/jugendstudie-und-pessismismus-19686963.html

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