Es mutet merkwürdig an, über Utopien zu reden, wenn eigentlich alles im Krisenmodus ist. Und doch sind Utopien heute gefragter denn je. Denn der eigentliche Verlierer von Krieg und Klimawandel, von Pandemie und Ungerechtigkeit ist nicht nur der Mensch, sondern auch seine Zukunft. Gemeint ist nicht die Zukunft als Angabe auf der Zeitachse, denn die findet automatisch statt. Es ist jene von Menschen gewollte Zukunft, die eine positive Konnotation für uns alle hat. Damit aber diese Zukunft nicht einfach nur die unwillkürliche Fortschreibung unseres abgelaufenen Daseins ist, braucht es die Utopie als Hoffnung. Kann diese doch Motivation und Orientierung, Design und Dialog für die Entwicklung gesellschaftlichen Lebens sein.
Utopie ist der sanfte Gegner einer unperfekten und unbefriedigenden Realität. Zugegeben, in unserer jetzigen Welt, die offenbar immer chaotischer, aggressiver und abrupter wird, wird es immer schwieriger, Bilder und Begriffe für eine Utopie zu bestimmen. Zu Zeiten eines Jules Verne schienen Utopien noch relativ einfach zu entwickeln zu sein, sorgte doch die noch unschuldige Idee eines linearen technischen Fortschritts für ein illustres Kopfkino bei Vordenkern aus den bildenden und den darstellenden Künsten. Schaut man sich die in Teilen futuristische Gestaltung der frühen Designer wie etwa Raymond Loewy an, dann spürt man noch die Begeisterung für Gedankenspiele wie „In 80 Tagen um die Welt“. Alles schien machbar und der Arbeitsalltag, wie auch immer er den Menschen aufrieb, bekam den grenzenlosen Konsum als Ausgleich.
Allerdings zeigte schon Mitte der 1960er Jahre der Verbraucheranwalt Ralph Nader, dass das industrialisierte Paradies so seine gefährlichen Tücken und unangenehmen Überraschungen hat. Man begann sich mit den nicht-intendierten Folgen des industriell-technischen Wohlstands zu befassen, was zu Beginn der 1970er zur Einführung und Durchsetzung von Verbraucherschutzrechten führte. Etwa zur selben Zeit thematisierte Victor Papanek ein Design, das weit über eine hedonistische Ästhetik der Produktdifferenzierung hinausgeht. Er verwies auf die global umspannende soziale und ökologische Verpflichtung der Disziplin und seiner Protagonisten. Wie notwendig dies war, belegte der Club of Rome mit seinem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972. An dieser Stelle hätte es im Design die Möglichkeit gegeben, den Sprung vom „Styling“ zu einem Design der „Sustainability“ zu schaffen …
Kreativität für gesellschaftliche Transformation
Heute, 50 Jahre später, scheinen eher Dystopien eines Hieronymus Bosch die mediale Fantasie zu beflügeln, stehen doch die Zeichen auf Endzeit. Weit entrückt scheinen Utopien, die Wege in eine Welt einer anderen Zeit bahnen und vom realen Konflikt mit der Umwelt in die gewünschte Harmonie des Morgen oder gar des Übermorgen führen. Dem Abstraktum einer Utopie steht eine brutal präsente Realität gegenüber, die die mentale Energie für das Hier und Jetzt absorbiert und die kognitive Flexibilität des Menschen erheblich vermindert.
Dabei wissen wir doch schon längst, dass wir beispielsweise eine neue Form des globalen Wirtschaftens brauchen. Stehen wir doch erheblichen ökologischen, politischen und sozialen Verwerfungen gegenüber. Schon Anfang der 1980er Jahre veröffentlichte das Öko-Institut sein Buch „Energiewende“, von dem sich schon die damalige Gesellschaft hätte inspirieren lassen können. Eine verpasste Chance, die zeigt, dass schon längst mehr Kreativität angesichts zu lösender Krisen gefordert ist, statt das Prinzip des „Mehr desselben“ (Watzlawick) weiter zu praktizieren.
Dass sich vor einem solchen Hintergrund das Design Thinking seit Anfang 2000 so erfolgreich entwickelte, mag heute nicht mehr überraschen, war aber damals noch eine Nischenstrategie. Vor allem Betriebswirte und Ingenieure erhielten durch Design Thinking einen neuen Zugang zur Kreativität. Und spätestens seit der fehlgeschlagenen Energiewende in der Politik der Merkel-Ära seit 2012 lässt sich in Deutschland beobachten, dass Kreativität auf allen Ebenen gefragt ist. Nicht von ungefähr entstanden in jüngster Zeit Organisationen wie SPRIND oder die geplante D.Innova. Aber solange diese nur volkswirtschaftlich instrumentell und nicht durch eine politische Vision begründet sind, bleibt der gewünschte transformatorische Effekt vermutlich überschaubar. Was fehlt, ist ein gesellschaftlicher Overview, der nicht nur die eigene, sondern auch die weltweite Situation mit in den Blick nimmt.
Auch für das Design gelten veränderte Parameter. Design hat sein klassisches Verständnis im Sinne der ästhetischen Gestaltung mit bildnerischem Entwerfen längst erweitert. Dieses neue Verständnis basiert auf der Zunahme der immateriellen Leistung von designaffinen Kreativen und definiert die Disziplin mit ihrer wirtschaftlich-kulturellen Bedeutung und ihrer wissensintensiven, transdisziplinären Arbeitsweise. Das erweiterte Design hat inzwischen einen viel größeren Geltungs- und Handlungsradius und entwickelt sich zur Wissenschaft des Modellierens imaginärer Entwürfe, getrieben von gesellschaftlichen Ideen. Design ist daher nicht mehr nur das, was DesignerInnen machen, sondern was Design auch in anderen Köpfen an Innovationen erdenken lässt. Es ist Zeit, um die Reset-Taste für die Aktualisierung der Leistungsfähigkeit von Design zu drücken. Eine Gesellschaft im Umbruch, in der Transformation braucht Bilder, schafft Vorbilder und sucht im Wimmelbild des Geschehens seine Zukunft, seine Richtung. Dem Design bietet sich hier eine historische Chance.
Neubesinnung auf gesellschaftliche Relevanz
Vielleicht hat sich das aktuelle Design zu bequem im operativen Hier und Jetzt eingerichtet – als Dienstleister für klar definierte Aufträge mit beschränkter Verantwortung. Dabei könnte die Disziplin – gerade angesichts der aktuellen Problemlagen – anschließen an historische Vorbilder. Institutionen wie der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründete Deutsche Werkbund setzten sich kritisch mit dem Zeitgeschehen auseinander. Und das 1919 gegründete Bauhaus eckte politisch so stark an, dass die NSDAP 1932 seine Breitenwirkung durch Schließung unterband.
Doch heute fehlen gesellschaftskritische oder auch nur designkritische Töne, die in aktuellen Debatten aufhorchen lassen würden. Es fehlt ein gesellschaftlicher Anspruch, der eine eigene Idee von Zukunft definiert. Natürlich ist ein solcher Anspruch keine Marginalie auf der Agenda einer Disziplin, sondern durchaus eine gewaltige Herausforderung. Geht es doch auch um die Verzahnung und Verflechtung des Disparaten. So ist Design oftmals Schauplatz divergierender Interessen zwischen einer dem Profit verpflichteten Marktwirtschaft einerseits und den Interessen von Kunden und Verbrauchern, die möglichst viel Leistung für den geringsten Preis wollen, andererseits. Hier kumulieren geradezu Zielkonflikte einer Ökonomie, die nur kurzfristig und für den Eigennutz kalkuliert. Nicht eingepreist sind aber die Kosten für die Nutzung und oft Übernutzung der natürlichen Umwelt, die stillschweigend den folgenden Generationen aufgehalst werden.
Von dieser Lethargie, der einfachen Fortschreibung der Gegenwart, sollte sich das Design befreien und sich aktiv in Debatten über die Zukunft der Gesellschaft einschalten – mit qualifizierten Beiträgen sowohl zu ethisch-moralischen Werten als auch zu technisch-wirtschaftlichen Optionen. Dabei geht es nicht um Dogmen, sondern um ein Mitdenken und Aushandeln von gesellschaftlichen Optionen für eine lebenswerte Zukunft. Im Grunde geht es um eine entwickelte Form von Sinnstiftung, die Konflikte löst und das Risiko von daraus wieder entstehenden Problemen minimiert. Die Mitwirkung an solchen Entwürfen hat eine intellektuell-schöpferische und eine kreativ-methodische Dimension.
Das Design kann hier durch sein Potenzial struktureller Interdisziplinarität eine generalistische Führungsrolle übernehmen, indem es Prozesse moderiert, Perspektiven zusammenführt und Optionen imaginiert. Denn jede gewollte Evolution einer Gesellschaft braucht eine Utopie, deren Design emotionalisiert und deren Dialogfähigkeit für kommunikative Anschlüsse sorgt. Vielleicht ist sogar dieser soziale Prozess des gemeinsamen Erfühlens und Erdenkens der eigentliche gesellschaftliche Gewinn für die Renovierung unserer Zukunftsfähigkeit. Hieraus entstehen Visionen, die durch ihre unterschiedliche gesellschaftliche Verortung (Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Administration, Politik etc.) konkreter formuliert werden und mit zur Normenveränderung beitragen. Vielleicht ist jetzt die Zeit dafür. Eine neue, große Chance für Design …?