Die normative Kraft des Fiktionalen?

“Warum müssen Sie ständig ungefragt Ihren Senf zu den unterschiedlichsten Themen geben?“, wurde ich in einem Kommentar zu einem meiner Posts auf LinkedIn gefragt. Erst fühlte ich mich brüskiert! Dann legte sich meine Empörung und ich sah die Berechtigung dieses direkten Hinterfragens. Vielleicht hatte sich bei mir als Lehrendem unbemerkt eine Déformation professionnelle eingeschlichen, die meint, auf jede Frage eine Antwort zu haben. Oder ist es mein Drang nach Teilhabe am gesellschaftlichen Austausch, die mich zu Kommentaren außerhalb meiner fachwissenschaftlichen Domäne motiviert? 

Im Beitrag auf zeit.de wird an WissenschaftlerInnen appelliert, sich nicht im Elfenbeinturm zu verstecken. Im Gegenteil, die Wissenschaft sollte sich in Zeiten des Umbruchs sogar einmischen. Grundsätzlich kann ich diese Aufforderung nur unterschreiben. Allerdings steckt der Teufel im „Design“! Mir geht es nicht um ein Mehr an Presseinformationen oder ein Weniger an fachwissenschaftlichen Termini, sondern um einen Paradigmenwechsel in der generellen Bedeutung gesellschaftlicher Kommunikation. Zeigen doch die Pandemie und erst recht der Krieg in der Ukraine, dass die einzelnen Fachwissenschaften zwar noch die analytischen Erklärungsmuster liefern können, aber die ganzheitlichen Handlungskonzepte zur Lösung nicht mehr. Vielleicht braucht die Wissenschaft ein erweitertes, neues Verständnis von Evidenz für eine Komplexität, die unsere Aufmerksamkeit zwischen Klimawandel und Weltordnung aufreibt? Geht es doch immer mehr um Antworten auf unspezifische Fragen mit unscharfen Problemstellungen, deren Wissensfundament einem morastigen Grund gleicht. Brauchen wir für transformatorische Programme und interdisziplinäre Prozesse so etwas wie eine „Anti-Disziplin“, die uns aus dem Korridor der isolierten Kompetenzen befreit und uns in die Kreativität der Korrelationen führt? Hat uns doch die altbekannte normative Kraft des Faktischen (siehe Russland und sein Krieg gegen die Ukraine) ziemlich kalt erwischt. Sollte wir nicht diese durch die „Normative Kraft des Fiktionalen“ (siehe neue Weltordnung) ergänzen, gar ersetzen? 

Das bisherige Konstrukt von Wissenschaftskommunikation ging davon aus, dass Wissenschaft für die Gesellschaft ein Referenzpunkt im Quadrat von Wissen und Verstehen, Planen und Handeln ist. Auch spielte sich Wissenschaft auf einer Bühne ab und das Publikum goutierte (oder ignorierte) höflich die Darbietungen. Waren früher die beiden Welten eindeutig getrennt, weil definiert, ist dies heute zunehmend eine Mischform (z. B. Reallabore und Citizen Science). Diese unumkehrbaren strukturellen Veränderungen müssen die Wissenschaft zu einem veränderten Kommunikationsverhalten führen. Es muss offensiver und intensiver, selbstverständlicher und performativer werden – auf der Höhe unserer Zeit! Andernfalls verliert Wissenschaft ihre Bedeutung als gesellschaftlicher Referenzpunkt …

Link: https://www.zeit.de/2023/07/wissenschaftskommunikation-universitaet-elite-forschung-transparenz

Bildquelle: Goodshot