Der Wissenschaft in Deutschland geht es derzeit ganz kommod – zumindest dem Anschein nach. War noch vor wenigen Jahren von einer Vertrauenskrise gegenüber der Wissenschaft die Rede, erwies sich in Corona-Zeiten, wie elementar wichtig Wissenschaft für die Gesellschaft ist. Doch die Ruhe ist trügerisch. Denn die derzeitigen Krisen – Krieg in der Ukraine, fehlende Energieressourcen, Klimawandel und schleppende Digitalisierungsprozesse – haben einen gemeinsamen Nenner: Es braucht viel, viel Geld der öffentlichen Hand. Die Verteilungskämpfe haben gerade erst begonnen, auch in den Hochschulen bis hin zur Ebene der Fachbereiche. Es zeichnet sich ab, dass die Wissenschaft um die notwendigen öffentlichen Gelder wird heftiger denn je kämpfen müssen. Dabei sind es gerade die WissenschaftlerInnen der verschiedensten Disziplinen, von denen die Gesellschaft mit Recht Beiträge zur Bewältigung der komplexen Zukunftsaufgaben erwartet. Die Frage ist also: Wird die Wissenschaft die diversen Kürzungen hinnehmen und alles beim Alten belassen? Oder entwickelt sie sich zum Treiber der anstehenden gesellschaftlichen Transformation und erntet Reputationskapital, das sich auch ökonomisch auszahlt? Schaut man sich an, wie sich die Arbeit bzw. Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen verändert, spricht einiges für die optimistische Prognose. Zu beobachten sind fünf wesentliche Trends, die sich auch in den Projekten unseres Büros immer wieder bestätigen.
Trend 1: Von der neutralen Beobachterrolle zur normativen Transformation von Wissenschaft.
Statt sich in die reine, zweckfreie Wissenschaft zurückzuziehen, leisten immer mehr WissenschaftlerInnen Beiträge zur Gesellschaft, auch normativer Art. Sie bestimmen ihre wissenschaftliche Identität neu, verlassen ihre Komfortzonen und beziehen Position. Hierfür wenden sie wissenschaftliches Wissen auch auf sich selbst an, auf Lehre und Forschung, ebenso auf die Entwicklung ihrer Institutionen.
Trend 2: Vom Ausnahmetalent der Wissenschaft zu den vielen Ko-Produzenten von Wissen.
Die frühere Vorstellung einer kleinen wissenschaftlichen Elite und einer breiten Öffentlichkeit von wissenschaftsfernen Laien ist endgültig überholt. Die Orte der Wissensproduktion nehmen zu, die Verwissenschaftlichung der Arbeitswelt wächst. Erfolge entstehen nicht mehr durch die Arbeit einzelner Persönlichkeiten in der „Blase“ ihrer Disziplin, sondern im kollaborierenden Handeln vieler Akteure.
Trend 3: Von der „Domänen-Burg“ zur dynamisch lernenden Community auf transformatorischen Wissensfeldern.
In Zeiten des exponentiell wachsenden, interdisziplinären Wissens gibt es keine feststehenden „Trutzburgen“, in denen sich Domänen verschanzen können. Auch ihr Wissen steht immer wieder auf dem Prüfstand und muss sich erneuern. Innerhalb der eigenen Wissensterritorien, aber auch gerade an deren interdisziplinären Rändern gilt es auf schwache Signale wissenschaftlicher Veränderungen zu achten und an neuem Wissen für Zukunftsaufgaben mitzuarbeiten.
Trend 4: Von der Abgeschiedenheit der Wissensproduktion zum offenen Prozessdialog von Wissenschaft.
Mangelnde Transparenz von Wissenschaft macht misstrauisch oder schafft bestenfalls Indifferenz. Eine Wissenschaft, die in hermetischer Abgeschiedenheit ihre Ergebnisse produziert und als nicht-hinterfragbar präsentiert, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Offenlegung, warum, von wem, mit welchen Zielen und welchen Methoden geforscht wird, schafft dagegen Transparenz und bestenfalls auch gesellschaftliche Teilhabe am Prozess.
Trend 5: Von einer punktuellen Projektkommunikation zu einer integrierenden Strategie für Wissenschafts-Governance.
Die drängenden Zukunftsaufgaben brauchen eine verantwortliche Wissenschaft, die schon zu Anfang ihrer Arbeit die Dimension der gesellschaftlichen Relevanz, von Sinn und Nutzenwirksamkeit mitdenkt. Das Governcance-Konzept hat hier besondere Relevanz, da es die Steuerung von Wissenschaft und Hochschulen im multi-relationalen Austausch mit verschiedenen Anspruchsgruppen begreift und die Gestaltung dieser Beziehungen in den Vordergrund stellt. Deutlich macht ein solches Verständnis, dass auch Wissenschaft auf einem gesellschaftlichen Wertekanon beruht und eigene Ziele verfolgt.
Schaut man sich diese fünf Trends im Zusammenwirken an, kann vermutet werden, dass künftig immer häufiger hochschulübergreifende interdisziplinäre Teams mit generalistischem Verständnis und transformatorischen Methoden zusammenfinden, um der Komplexität der Zukunftsaufgaben gerecht zu werden. Es wird sich dann erweisen, welches Vertrauen die diversen Disziplinen untereinander in die Kompetenzen der jeweils anderen haben und mit welcher Intensität sie um die Vertrauenswürdigkeit ihrer Ergebnisse und Handlungskonzepte kämpfen. Die Frage, ob sie zum Treiber oder zum Getriebenen der Veränderungen werden, hätten sie jedenfalls für sich entschieden. Die Akteure der Wissenschaft sollten auf diese historische Chance setzen …