Kapitulation vor der Komplexität? 

Oft glaube ich, dass es in Deutschland vor allem zwei Arten von Menschen gibt – die, die mit Komplexität nicht umgehen dürfen, und die, die es noch nie wollten, weil sie es nicht können. Und so ist eines der größten Probleme der Transformation die Schere im Kopf der Menschen. Und zwar derjenigen, die mit Komplexität zwar umgehen können, aber sofort gestoppt werden, sobald sie ein größeres, komplexeres Problem thematisieren. Sie müssen dann von allen Seiten mit einer argumentativen Armada rechnen, die massiv abwiegelt. 

Und so wird Komplexität oft ignoriert und Problemlösungen in die Zukunft delegiert. Dabei hätten viele Probleme unserer Gesellschaft viel frühzeitiger angegangen werden müssen. So leugnet niemand den maroden Zustand unserer Infrastruktur in Deutschland. Die Krise hat sich seit Jahrzehnten angekündigt und sich für Menschen, die beispielsweise in Lüdenscheid leben, zur Katastrophe ausgeweitet.

Muss die Karre – im wahrsten Sinne des Wortes – erst an die Wand gefahren werden? 

Dass Fußgänger in der „autogerechten Stadt“ – jahrzehntelanges Planungsdogma – nur Randfiguren sind, überrascht nicht. Und dass sie zunehmend Unfallopfer werden, scheint niemanden aufzuregen. Grund könnte sein, dass die Fußgänger gleichzeitig eben auch Autofahrer sind. Sind doch 2024 mehr als 49 Mio. Autos (bei 84 Mio. Einwohnern!) zugelassen worden – höchster Wert aller Zeiten! Haben wir als Fußgänger und Autofahrer Angst vor unangenehmen Wahrheiten? Es sind Entscheidungen zu Verkehrskonzepten zu treffen, die manch einem weh tun werden. 

Erschwerend für die Städteplaner kommt hinzu, dass die Autos nicht nur immer mehr, sondern auch immer größer und schwerer werden. Durch den angestrebten Systemwechsel vom Verbrenner zum E-Motor wird die Komplexität noch steigen. Dieser hat erheblichen Einfluss auf die Infrastruktur. Weitere städtische Aufgaben wie Wärmewende und Kanalisation kommen dazu und kumulieren die Probleme. Dass zudem unsere Städte umzubauen sind, um die Konsequenzen des Klimawandels zu verkraften, zeigt nicht zuletzt die Größe der Herausforderung.

Was mich immer wieder überrascht, ist die Tatsache, dass das Wissen über die zukünftigen Probleme ganz offen auf dem Tisch liegt, aber nach wie vor ignoriert wird. Bei den Verantwortlichen scheint sich Handlungsunfähigkeit breit zu machen. Ob die Größe der Herausforderung noch als legitime Ausrede taugt? Ja, eine Stadt ist ein hochkomplexes System. Die unsichtbare Vernetzung von Technik und Wirtschaft, von Sozialem und Kultur wird deutlich, sobald man Eingriffe in einzelne Funktionen vornimmt und vor ungeahnten Problemen in einem Subsystem steht. Die Pariser Bürgermeisterin wird wissen, warum sie sich von einem Experten für Systemtheorie und -technik beim Umbau ihrer Stadt unterstützen lässt. 

Lasst die Menschen, die erneuern wollen, an die Arbeit! Und hört auf, die Probleme klein zu reden! Kapitulation ist keine Option!

https://www.faz.net/aktuell/wissen/leben-gene/entschleunigung-fuer-sichere-fussgaenger-19647261.html

Bildquelle: Eigenes Bild