Plädoyer für einen neuen Wohlstandsbegriff

Inzwischen geht mir die Diskussion um unseren angeblich gefährdeten Wohlstand auf die Nerven! Immer wird mit dem Sargdeckel geklappert: „Hey Leute, die Politiker kommen und nehmen euren Reichtum weg. Wehrt euch!“ Sorry, aber ich finde dieses Spielchen mit den Ängsten der Menschen unanständig. Und ich denke auch, dass damit Menschen in ihrer Meinung manipuliert werden. Müsste nicht zunächst der Wohlstandsbegriff in seinem Kontext verortet und differenziert werden?

Wenn ich lese, dass Klimaschutz gegen Wohlstand ausgespielt wird, um der Bundesregierung ihre Inkompetenz zu beweisen, dann ist das für mich billige, weil durchschaubare Polemik („Wo ist Olaf Scholz und was will er?“ FAZ 9.4.2024). Als würde Wohlstand wie eine On-Off-Beziehung funktionieren. Ja, wir haben gute Gründe mit unseren PolitikerInnen unzufrieden zu sein. Aber wir sollten unsere Kritik fair und sachlich in einer Demokratie vortragen.

Auch meine ich, dass Wohlstandvergleiche zwischen früher und heute zwar interessant, aber im Hinblick auf eine Transformation nicht zielführend sind. Ja, wir können stolz auf unseren Fortschritt in den letzten 50 Jahren sein, weil wir heute für eine neue Waschmaschine nur 19 Stunden, statt wie 1974 noch über 101 Stunden arbeiten müssen. Oder dass für ein Fernsehgerät nicht mehr fast 66, sondern nur noch knapp über 22 Stunden gearbeitet werden muss. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum in vielen Haushalten neben dem Wohnzimmer noch ein Gerät in der Küche steht und – völlig normal – zur Ausstattung eines Kinderzimmers gehört. Ich will hier gar nicht den Einfluss auf das Sozialverhalten diskutieren, sondern nur erwähnen, dass ein momentaner, subjektiv empfundener Wohlstand anschließend zum langfristigen, objektiven Problem werden kann. Irgendwann müssen nicht nur einer, sondern drei Fernsehgeräte entsorgt werden. Ein immer Mehr an materiellem Wohlstand schafft nachweislich immer größere Probleme für die Zukunft! 

Ich denke, dass der Begriff Wohlstand schnellstens eine andere, aktuellere Konnotation in unserer Gesellschaft erfahren muss. Ein verantwortungsvolles Verständnis braucht eine generationen-übergreifende Zukunftsorientierung. Das erfordert eine allgemein verständliche Orientierung an Werten, die über das Materielle hinausdenkt. So ist etwa zu fragen, ob nicht z.B. der Trend zum Drittauto pure Dekadenz bis hin zur gesellschaftlichen Rücksichtslosigkeit ist. Immer mehr in den Fokus zu rücken ist auch eine globale, über den eigenen Kulturkreis hinaus gehende Betrachtung. Was für uns selbstverständlicher Wohlstand ist, kann in anderen Gesellschaften als verwerflich gelten, weil es andere kulturell induzierte Wertvorstellungen gibt. Wohlstand muss sich emanzipieren: Er darf nicht mehr ausschließlich materiell verstanden und durch das verengte Blickfeld einer retrospektiven Ökonomie gesehen werden. Zeit für einen neuen Wohlstandsbegriff!

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