Es sind nicht die Einsteins, die fehlen! Selbst wenn man davon nicht genug haben kann. Was fehlt, sind die Zweifler ohne Schere im Kopf. Was fehlt, sind die Abenteurer für Reisen in die Terra incognita der Wissenschaft.
Es geht um den „Schwund an disruptiven Innovationen“, so das Wissensmagazin „scinexx“ vom 9.1.2023, das sich auf die Veröffentlichung in „Nature“ wenige Tage zuvor beruft. Interessant, dass es einer so umfangreichen und großen Untersuchung bedarf, um das zu erkennen. Offenbar wurde es in den jeweiligen wissenschaftlichen Communities nicht bemerkt, gar nicht vermisst oder auch nicht erwartet. „Weniger echte Durchbrüche: Wissenschaft und Technik produzieren heute weniger bahnbrechende Entdeckungen und Erfindungen als noch vor gut 60 Jahren. Der Anteil von Fachartikeln und Patenten, die Paradigmenwechsel bewirken und Forschung in ganz neue Richtungen lenken, hat sich signifikant verringert…“, so scinexx gleich zu Beginn. In einer Situation, in der alle Volkswirtschaften dieser Welt vor großen Herausforderungen stehen, kann sich das bitter rächen.
Mit Forschungen, die sich auf die Findung von „konsolidierenden Erkenntnissen“ fokussiert, schreiben wir unser System nur fort, statt es strukturell zu erneuern, um die große Transformation zu leisten. Aber vielleicht ist das genau unser Problem? Bitte keine grundsätzliche Systemkritik und schon erst recht keine besseren Alternativen dazu?! Nichts anderes wären disruptive Innovationen!
Gab es doch schon vor über 50 Jahren Zweifler am System, deren Erkenntnisse sich nicht wirklich durchsetzen konnten. Ja, gemeint ist der Club of Rome. Und deren Kritik rüttelte sehr kräftig an den Funktionsmechanismen unserer Zeit.
Womit wir beim Stichwort der Zeitachse wären. Was ist eigentlich in den letzten 60 Jahren passiert, was Wissenschaft dazu gebracht hat, immer weniger radikal zu denken? Auch hier nur die Vermutung, dass die zunehmende Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs zu Rationalisierungseffekten mit negativen Konsequenzen auf die Qualität geführt haben könnte. Oder wie sind die Plagiate in den Dissertationen zu erklären? Oder ist in Deutschland die Akademisierungswelle mit immer neuen und auch wachsenden Hochschulen das Problem? Das ging vielleicht zu schnell, so dass die Professionalität in den Strukturen darunter litt?
Allerdings wurde in den letzten Dekaden auch die Welt immer komplexer, was logischerweise zu einem exponentiellen Wachstum des wissenschaftlichen Wissens führte. Was dazu führte, „dass Forscher oft nur einen sehr eng begrenzten Teil dieses Wissens für die eigene Arbeit berücksichtigen“. Ob wir zu wenig inter- und transdisziplinäre Forschungen hochschul- und länderübergreifend haben?
Apropos, ob es in den letzten 60 Jahren auch vermehrt Autokraten in den Regierungen gibt, die ein eigenes Verständnis von Wissenschaftsfreiheit haben? Es würde sich lohnen, den Fragen auf den Grund zu gehen …
Schmeißt den Schubladenschrank raus!
Hier stimmt doch etwas nicht! BMW-Chef Oliver Zipse erklärt auf der Digitalkonferenz DLD den Umbruch der Autobranche und betont, dass damit eine „komplett neue industrielle Ära betreten“ wird. Kurz vorher stellen amerikanische Wissenschaftler fest, der Anteil disruptiver wissenschaftlicher Erkenntnisse habe massiv abgenommen (nature.com, 2022). Die entsprechende Grafik zeigt einen deutlich degressiven Verlauf: Durchbrüche in „Life sciences and biomedicine“ und „Physical sciences“ stehen bei Null, „Social sciences“ und „Technology“ tendieren ebenfalls gen Null. Gibt es denn keine Beziehung zwischen industriellen Innovationen und wissenschaftlichem Fortschritt?
Erstaunlich auch, dass in einem Interview (DIE ZEIT 12.1.2023) der Forschungsmanager Wilhelm Krull (ehemals Generalsekretär der Volkswagen Stiftung) hier nur unaufgeregt die Ursachen erläutert. So lautet die Überschrift zum Interview: „Der Raum für Kreativität ist geschrumpft“. Ist das denn kein Aufreger, wenn man bedenkt, dass doch schon seit Jahren „Creativity“ zu den Top 10 Skills der Arbeitswelt (WEF) gehört? Pointiert gesagt: Was in der Wirtschaft immer dringender als Fähigkeit gefordert wird, wird in der Wissenschaft immer mehr beschnitten? Auch hier mein Unverständnis.
Als Designer und jemand, der jeweils die Hälfte seines Berufslebens in der Wirtschaft bzw. in der Wissenschaft zugebracht hat, war ich immer ein wenig von der Kreativität meiner Kollegen aus der Betriebswirtschaft und der Technik enttäuscht. Das kann an den Routinen des Alltagsgeschäfts gelegen haben. Und selbstredend ist es ein Unterschied, wenn Kreativität und Innovation im Kontext wirtschaftlicher Überlegungen stehen.
Aber in der Wissenschaft mit ihrem Biotop Hochschule sollte es doch andere Rahmenbedingungen geben. Doch nicht? Gilt hier das Primat „Safety first“? Schade!
Die Wissenschaft mit ihrer Institution der Universität ist nach meinem Verständnis auch immer Ausdruck der inneren Verfasstheit ihrer Gesellschaft, in der sie arbeitet und wirkt. Anscheinend hat unsere Gesellschaft durch ihren Wohlstand eine Stufe erreicht, auf der die Legitimität der Bedürfnisse nicht mehr hinterfragt wird.
Möglicherweise hat dies zu Asymmetrien in der Wahrnehmung und Interpretation gesellschaftlichen Veränderungsbedarfs geführt. So haben Teile der Wirtschaft erkannt, dass die bisherigen Geschäftsmodelle zum Auslaufmodell werden, während Teile von Volk und Volksvertretung den Erhalt des Status quo für erstrebenswert halten. Jedenfalls gibt es keinen kollektiven Leidensdruck und Konsens über Zeit und Ziel, Maßnahmen und Meilensteine der Transformation.
Meine Vermutung ist, dass wir durch unsere Akribie, alles – auch das Wissen–- in Schubladen einzusortieren, nur noch „kleine“ Probleme lösen können. Komplexe, ganzheitliche und systemische Aufgabenstellungen brauchen aber ganz neue, transdisziplinäre Denk- und Handlungsweisen in der Wissenschaft.
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Link: https://www.faz.net/aktuell/wissen/warum-es-in-der-forschung-immer-weniger-innovationen-gibt-18590388.html
Link: https://www.scinexx.de/news/technik/verliert-die-wissenschaft-ihre-innovationskraft/