Auffallen um jeden Preis! Es gibt Branchen, Unternehmen und Einzelpersonen, bei denen der „laute Aufschrei“ in der Gesellschaft und den Medien fester Bestandteil des Geschäftsmodells ist. In der Haute Couture gehört es sogar zum guten Ton, dass Entwürfe und ihre Inszenierung immer wieder die Grenzen des bis dato Gesehenen verschieben. Doch das Konzept geht wohl selbst in der Modebranche nicht mehr auf, so der Artikel „Schockt nicht mehr“ in der SZ.
Vielleicht werden inzwischen die großen medialen Aufreger von der Realität übertroffen und täglich direkt ins Wohnzimmer geliefert? Nur heißen die nicht Balenciaga und empören medial durch BDSM-Bärchen, sondern Butcha und schaffen tiefe Sprachlosigkeit durch grauenhafte Brutalität. Dieser Krieg der Kulturen um Aufmerksamkeit hat in seiner Alltäglichkeit und Gleichzeitigkeit etwas Surreales, der sich wie einer dieser früheren Flipper-Spielgeräte in einer Affengeschwindigkeit bewegt – in dem Fall zwischen Verteidigung des Wohlstands und Angriffs des Wahnsinns. Das hat zur Folge, dass die Wahrnehmung der Menschen immer restriktiver und selektiver reagiert. Wer weiß, wie viele Menschen sich den täglichen Nachrichten schon verweigern, weil sie sich kognitiv überfordert fühlen?
Auffallen (und dabei beachtet zu werden) um jeden Preis – und das ohne die Gefahr eines heftigen Shitstorms – ist heutzutage fast unmöglich! Und dann ist da noch dieses extreme Auseinanderdriften der Welt und ihrer Wertesysteme – den kreativen Schockmomenten einer künstlerisch- intellektuell entwickelten Avantgarde stehen die Anachronismen eines archaisch-inhumanen Albtraums entgegen. In dieser Spreizung finden sich viele Zwischentöne und -tönungen, die von religiöser und rechter Radikalität oder von kapitalistischen und konsumsüchtigen Exzessen durchzogen sind.
In diesem Kultur-Karaoke ist es gerade für junge Menschen schwierig, die eigene Position zu finden. Erst recht, wenn sie in Bereichen der gesellschaftlich relevanten Kommunikation tätig sein wollen. Noch herausfordernder wird das, wenn sie an sich den Anspruch haben, im Bereich der Zukunftsgestaltung zu wirken. Braucht es doch dafür eine analytische Wahrnehmung der Gegenwart und interpretierte Wahrscheinlichkeiten der Zukunft. In unserem Konzept „Design Teaching“ beschreiben wir ein Projekt von Studierenden, das die qualitative Skalierung von Kommunikation und Emotionalisierung zum Gegenstand hat. Nachrichten aus Fachzeitschriften werden selektiert und in den Kategorien „Information“, „Sensation“ und „Provokation“ verortet. Eines der Teams überschrieb seine Abschlusspräsentation mit „Wo ist das Wow?“. Was zeigt, dass schon damals die Erwartungshaltung der jungen Generation an relevante Nachrichten mit substantiierter Argumentation kaum erfüllt wurde. Ob das wohl heute sehr viel besser wäre?
Nachzulesen im Buch „Designplanung“ (Ulrich Kern, Petra Kern) von 2009.
Link: https://www.sueddeutsche.de/leben/mode-billie-eilish-madonna-skandal-1.5707345