Asymmetrie von Wahrnehmung und Wirklichkeit

Immer, wenn Verwandte zu Besuch kamen, hieß es: „Was bist du groß geworden.“ Und dann wurde in mein Kindergesicht gegriffen und die Wange mit Daumen und Zeigefinger gerüttelt, um zu testen, ob ich echt bin. Ich fand das immer doof! Weiß man doch, dass Kinder bis zu einem gewissen Alter wachsen, und dann nicht mehr. Der Begriff „Erwachsen“ sagt es doch aus … 

Sehr bemerkenswert dagegen fand ich die Äußerungen von Robert Habeck in der letzten Sendung von Anne Will. So konstatierte er, dass sich in der Welt der letzten 18 Jahre vieles geändert hat, dass die Regeln, mit denen die Bundesrepublik bisher regiert wurde, sich auch ändern müssen. Auf den Punkt bringt er es in dem Satz: „Wir sind umzingelt von Wirklichkeit.“ Für mich deswegen erstaunlich, weil ich PolitikerInnen fast immer als die „Wir-haben-alles-im-Griff-Typen“ kennengelernt habe. Und wenn sich diese zur Schau gestellte Selbstsicherheit durch faktische Ereignisse (siehe z.B. die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan) nicht mehr aufrechterhalten ließ, war man erstaunt und betonte immer die Unvorhersehbarkeit. Und mit diesen gestanzten Ausreden kommen Politiker sogar meist durch. Denn die Welt hat sich in einer Weise beschleunigt, dass die Säue, die immer wieder neu durchs Dorf getrieben werden, gar keinen Antreiber mehr brauchen, sondern automatisch und wie bekloppt ihre Runden drehen. Mich hat Habecks Offenheit berührt! Ich glaube schon lange, dass die Ausstrahlung von Omnipotenz nur leere Attitüde ist. Wissen wir wirklich, was wir, Deutschland respektive Europa, tun, wenn der künftige Präsident der USA Donald Trump heißt? Ihm in die Wange zwicken? Wahrscheinlich ist es dann zu spät, um angepasste Strategien zu entwickeln.

Wie dramatisch diese Wirklichkeit inzwischen ist, bringt der Satz von Anton Hofreiter auf den Punkt: „Wir sind in einem Systemwettbewerb: Demokratie gegen Autokratie, Krieg gegen Frieden.“ Ich denke, man muss es so extrem auf den Punkt bringen. Wenn ich sehe, wo überall die Demokratie angegriffen wird, kann ich nur beipflichten. Und wenn Venezuela so im Vorübergehen große Teile des Nachbarn Guyana annektieren will, dann lässt sich hier das Muster der Rohstoff-Imperialisten erkennen. 

Die „dünne Haut der Zivilisation“ scheint mehr als angekratzt zu sein. Was sich darunter erkennen lässt, ist nach meinem Verständnis tief verstörend. Gegen das, was jüngst an grauenhaften Bildern aus Nahost kommt, sind die vier apokalyptischen Reiter von Albrecht Dürer, die Dämonen von Hieronymus Bosch oder der dystopische Albtraum „Uhrwerk Orange“ von Stanley Kubrick nur Vorgeplänkel. Nicht umsonst wird in der SZ ein Bilderverbot ins Spiel gebracht. Ich denke, wir sollten uns als Gesellschaft dieser Diskussion stellen, um die Asymmetrie von Wahrnehmung und Wirklichkeit zu erkennen. Vielleicht verstehen wir dann das Ausmaß unserer kognitiven Dissonanz besser. Je eher, je besser … 

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tv-kritik-zu-anne-will-zur-letzten-ausgabe-der-talkshow-19358879.html

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/anton-hofreiter-zur-haushaltskrise-olaf-scholz-haette-sich-entschuldigen-muessen-a-5758146f-87d6-4296-a8ba-c48fbaec8d14

https://www.sueddeutsche.de/kultur/krieg-in-gaza-und-israel-terrorismus-is-dschihadismus-hamas-horst-bredekamp-1.6312797

Bildquelle: Eigenes Bild