Fantasie mit hohem IQ gleich Utopie

In diesen Tagen wird vielerorts immer wieder die bange Frage gestellt: Wer ist kreativer – Mensch oder Maschine? Wie nicht anders zu erwarten, beantworten die Menschen diese Frage prodomo und verweisen auf ihr exklusives und göttliches Privileg der Kreativität. Aber geht es überhaupt um diese Frage eines Wettrennens zwischen Mensch und Maschine? Hat die Maschine nicht schon längst den Vorsprung?

Ein Beispiel: Über diesen Text, den Sie hier gerade lesen, wird ein Algorithmus von Linkedin nach seinen, mir unbekannten Kriterien entscheiden, ob und wer ihn zu lesen bekommt. Er befindet, ob meine Kreativität von Rezipienten zur Kenntnis genommen wird. Dieser Algorithmus wurde von Menschen geschrieben, deren Intensionalität ein kommerzielles Verständnis von Kreativität zu Grunde liegt. Bei Linkedin gehöre ich nicht zu den zahlenden Kunden. Also hänge ich vom „Goodwill“ der Maschine ab. In meinem kleinen Beispiel stellt sich nicht die Frage nach dem Wettrennen um die kreativere Existenz, sondern nach dem Zugang zum Medium. 

Kreativität ist ohne Anarchie nicht vorstellbar. Und „können“ Maschinen überhaupt Anarchie? Werden sie nicht vielmehr alles tun, um diese abzuwehren und den Prämissen ihrer, dem System eingepflanzten Logik zu folgen? Und haben wir uns als Menschen nicht schon zu sehr untergeordnet? Müssten wir nicht die Anarchie unserer Kreativität wieder zulassen, um Beispiel in Form von Utopien?

Will der Mensch die Deutungs- und Bedeutungshoheit über seinen Genius nicht verlieren, muss er sich umgehend den Irrungen und Wirrungen seiner Realität stellen und nach konsensfähigen Vorstellungen einer kollektiven Zukunft suchen. Dafür wird er seinen eingelullten Zustand aufbrechen und seinen Kokon eines All-inclusive-Wohlstands sprengen müssen. Dass dies nicht einfach sein wird, zeigt schon allein die Tatsache, dass zwar fast alle Menschen Angst vorm Klimawandel haben, aber nur ein weitaus geringerer Teil zu Verhaltensänderungen bereit ist. Um die Menschen aus ihrer Lethargie herauszuholen, braucht es in ihrem ureigenen Interesse neue, differenzierte Gesellschaftsmodelle, deren Diskurs und mutige Umsetzung – im Sinne eines neuen Realitätssinns für notwendige Utopien von Zukunft.

Ja, wir brauchen Utopien, deren Voraussetzung tiefes Wissen ist. Utopien, die mit einem hohen Maß an zweckrationaler Kreativität entstehen und von Menschen erdacht werden, deren Kalkül nicht kommerziell, sondern kulturell motiviert ist und die aus zivilisatorischer Verantwortung handeln. Dafür braucht es professionelle Fantasie, eine holistische Form von Intelligenz und ein wissenschaftliches Instrumentarium aller Akteure. Wenn sich Politik, Wissenschaft und Kunst zu einer konzertierten Aktion verbünden, wäre dies eine gute Voraussetzung. Auf die Intelligenz der Maschinen und auf ihre Algorithmen sollten wir uns nicht verlassen …

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/essay-suche-nach-einer-klima-utopie-rueckkehr-nach-ecotopia/29269438.html

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